Unperfekt

20.02.2023

Wir leben in einer Welt der Bilder, des Marketings und der Illusion. Noch nie in der Geschichte hatten Menschen so viele perfekte Artgenossen um sich wie heute. Die Fernsehsprecherin, der Hollywoodstar, die Zahnpastawerbung, die Plakatwand zeigen perfekte Menschen. Nach strengen Kriterien von Schönheit werden sie ausgewählt und entsprechend bezahlt. Was nicht perfekt genug ist, wird operiert oder gefotoshopt. Echte Menschen treffen wir hingegen kaum noch, weil wir generell sehr wenige Kontakte pflegen. Noch vor hundert Jahren war es in den Dörfern üblich, einander täglich am Abend zu treffen, um zu singen, zu spielen und zu essen. Tagsüber arbeitete man auf den Feldern, gemeinsam. Eine Person hatte an einem normalen Tag Kontakt zu 30-40 anderen und sehr oft waren es ganz verschiedene Menschen. Heute sieht man im Job die ewig gleichen 4-5 Kollegen, abends vielleicht noch eine Freundin oder Verwandte, abwechslungsreich ist das bestimmt nicht. Dieses Leben führt zum einen zu Einsamkeit, zum anderen zu einem völlig verzerrten Bild der Realität. Sehen Sie Ihre Nachrichtensprecherin öfter als Ihre beste Freundin? Verbringen sie mehr Zeit mit fiktiven Charakteren aus dem Fernseher als mit Menschen aus Fleisch und Blut? Die Antwort wird ja sein, weil sie bei uns allen ja ist. Was ist aber die Folge von dieser Verzerrung der Wahrnehmung? Uns fallen Kleinigkeiten an uns und anderen plötzlich viel stärker auf, die nicht perfekt sind, die aus dem Rahmen fallen. Menschen mit nur einem Auge, mit ersichtlichen Hautkrankheiten, abstehenden Ohren, Gehbehinderungen und vielen anderen Besonderheiten fallen uns plötzlich auf, sie sind nicht mehr die Normalität. Bei den meisten Menschen führt das dazu, dass sie beginnen, schon kleine Makel an sich zu bemerken und sie dringend beseitigen wollen. Schiefe Zähne, große Nase, Ringe unter den Augen, all das scheint nicht mehr gesellschaftsfähig zu sein. Auf der einen Seite führt das zur Ausgrenzung von Menschen, die ihre Besonderheiten nicht abschaffen können oder wollen, zum anderen aber zu einem übertriebenen Wahn der Selbstoptimierung. Findige Marketingspezialisten pushen diese Tendenz zu ihren Gunsten, was Millionen und Milliarden in Bewegung setzt für Zahnspangen, Schönheitsoperationen, falsche Wimpern, Bleichmittel für Sommersprossen und Färbemittel für die Haare. Vor 100 Jahren waren Menschen wie sie waren, weil sie es mussten. Das war in Einzelfällen bitter, in den allermeisten Fällen aber sehr gesund, denn es war normal, nicht perfekt zu sein und den Beweis konnte man viele Male am Tag erhalten, und zwar in jeder Begegnung. Das Wissen, dass jeder seine Defizite und Einschränkungen hatte, machte es viel leichter, seine eigenen Unzulänglichkeiten zu akzeptieren und anzunehmen. Man war wie man eben war, etwas das den Menschen heute sehr schwer fällt. Das Streben nach Perfektion bringt heute viel Stress und Unzufriedenheit mit sich. Gleichzeitig drängt es Menschen an den Rand der Gesellschaft, weil sie optisch nicht der Mehrheit entsprechen. Vor 100 Jahren war es normal, anders zu sein. Man machte sich nicht lange Gedanken zu Dingen, die man nicht ändern konnte. Man richtete den Blick auf seine Stärken, von denen an jedem Menschen immer ausreichend vorhanden sind. In Dankbarkeit erfreute man sich an dem, was man hatte und betrauerte nicht das, was fehlte oder verloren gegangen war. Es ist herrlich und sehr heilsam, sich als defizitären Menschen anzuerkennen und die Normalität darin zu sehen. In diesem Punkt ein bisschen retro zu sein, täte uns allen gut.